Untermain aktuell 3/1993


Brief einer Orni-Frau

Liebe Ornithologen und liebe Ornithologinnen!

Diese Anrede habe ich noch nie gelesen. Es scheint noch keiner Vertreterin der Emanzipation aufgefallen zu sein. Nicht, daß ich so angesprochen werden möchte, denn auch mit "innen" bin ich kein eigentlicher Ornithologe. Im Grunde genommen bin ich, wie viele Partnerinnen von Ornithologen, eine Mitläuferin bei diversen Spaziergängen.

Dabei bleibt es aber kaum aus, daß man eine umfangreiche Artenkenntnis erlangt. Was mir oft auch wirklich Spaß macht und Freude bereitet: Kann ich doch so manches Mal versierte Ornis (damit sind Ornithologinnen und Ornithologen gemeint) verblüffen, weil ich ein gefiedertes Tier ganz ohne Fernglas und Spektiv erkenne. Natürlich kann ich nicht sagen, ob dies ein Weibchen vor der ersten Eiablage ist oder ein Männchen im 3,5 Jahr, also kurz vor der Geschlechtsreife, aber ich weiß die Seite im Bestimmungsbuch und liege mit meiner "Ferndiagnose" oft richtig.

Wieso, werden Sie jetzt fragen. Nicht, daß ich kein Fernglas hätte - so etwas bekommt man als Lebensbegleiterin eines Ornis am nächsten Geburtstag, spätestens jedoch Weihnachten geschenkt, auch wenn es nicht auf dem Wunschzettel vermerkt war. Solch einen "Wunsch" liest ein richtiger Orni von den Augen ab. Ein Fernglas ist eine Investition, werden Sie nun sagen, aber solch eine Ausgabe wird wettgemacht, glauben Sie mir! Spart mein Orni-Partner doch all die Blumen für Mutter- und Geburtstage, denn da werde ich ja, mit Fernglas freilich, ausgeführt - mitten in die prachtvoll blühende Natur zur Nachtschwalbe, nach Waghäusel, zur Zippammer oder auf den Kühkopf. In fast allen Fällen handelt es sich um Naturschutzgebiete oder -reservate, so dass auch das Pflücken eines Blumenstraußes vor Ort entfällt.

Damit ist aber noch immer nicht erklärt, warum ich Vögel per "Ferndiagnose" bestimmen kann. Ganz einfach: In den meisten Fällen bin ich derart bepackt, daß nicht mal eine Hand bleibt, das Fernglas zu halten; sollte ich den Versuch wagen, mich zu recken und zu strecken, um einmal durch das Spektiv zu schielen, könnte es passieren, dass mich die Lasten (Bestimmungsbücher, Ersatzfilme, Zweit- und Drittkamera, Videokamera, Stativ, Picknick, Unterhaltungsmaterial für die Kinder etc.), aus dem Gleichgewicht bringen und ich ins Wanken gerate. So habe ich mir angewöhnt, mich in Geduld zu üben und meine Umwelt zu beobachten. Dabei entdeckt man Verhaltensweisen, die einem Orni total entgehen, der darauf bedacht ist, Gefiedermerkmale, die Länge des Schnabels, Farbe der Füße, Streifung des Stoßes oder gar einen gelben Augenring zu erkennen. In den letzten Jahren habe ich ungezählte Stunden in starrer Haltung verbracht und mein Auge für viele europäische Vögel geschult.

Doch nicht nur Vögel habe ich beobachten können, so manches Mal erregte eine frustrierte oder total gelangweilte Orni-Frau meine Aufmerksamkeit. Plagte sie sich doch, ganz gleich aus welchem Land sie kam, mit ähnlichen Problemen wie den geschilderten. Wenn man zu Anfang denkt, man könne einen echten Orni, wenn auch nur ein kleines bißchen, ändern, so wird ziemlich schnell klar, daß dies nicht geht. Nicht jede Partnerin verkraftet einen kleinen Ausflug von 400 km wegen eines kleinen Trauersteinschmätzers bei sengender Hitze, oder daß sie in jedem Sommerurlaub bei Frost, Regen und Sturm in die nördlichsten Tundren geschleppt wird, weil es dort so viele Vögel im Brutkleid gibt.

Oft habe ich daran gedacht, einen "Club der Orni-Frauen" zu gründen, um etlichen Frauen einige Frustrationen zu ersparen, und anderen zu zeigen, dass das ganze auch eine lustige Seite hat. Wer außer einer Orni-Frau hat denn schon fünf oder mehr bis unter die Halskrause mit optischen Geräten bewaffnete Ornithologen in Ameisenkniehöhe über eine Wiese schleichen sehen? Vor dem Frühstück freilich, nördlich des Polarkreises, denn man weiß ja nie, wie lange die Sonne noch sichtbar sein wird, und - vor allen Dingen - wie lange sich die Scheckenten im Brutkleid zeigen.

Oder haben Sie schon mal einen jungen Mann mit Fernglas um den Hals abwaschen sehen? Ich ja, in Finnland, in einer Regenpfütze: es könnte ja ein Seeadler oder ein rotsterniges Blaukehlchen vorbeikommen. Ein echter Ornithologe ist halt allzeit bereit, bei Raritäten gibt es keinen Hunger, Durst oder etwa Müdigkeit, jede Beobachtung ist einmalig
      - auch für mich!

Gabi Eidam