Kraniche im Nebel


Bericht der Lauterbacher Zeitung vom Kranicheinflug in Ulrichstein am Samstag, dem 7. November 1998

Aus nebligem Himmel kamen die Vögel

Riesige Kranichschwärme machten unerwartet in Hessens höchster Stadt Ulrichstein Zwischenstation.

Alfred Hitchcock könnte mit seinem Film "Die Vögel" Pate gestanden haben bei einer Tiertragödie, die sich am Samstag in den frühen Abendstunden in Ulrichstein abgespielt hat. Mehr als zweitausend Kraniche kreisten zunächst ab 17 Uhr orientierungslos über dem von einer leichten Nebelschicht verdeckten Vogelsbergstädtchen.

Ohrenbetäubender Lärm lockte zahlreiche Zuschauer auf die Straßen und versetzte diese gegen 19 Uhr in Angst und Schrecken: Unzählige Vögel durchstießen die Nebelschicht und benutzten die von Lampen hell erleuchteten Straßenzüge regelrecht als Landebahnen. Zusammenstöße mit Autos waren dabei oft unvermeidlich, gingen aber meist glimpflich ab. Für viele Kraniche meist Jungtiere, kam es aber noch schlimmer, denn sie prallten im Landeanflug gegen helle Hauswände und verendeten oftmals an Ort und Stelle. Inzwischen waren die Feuerwehr sowie die Polizeistation Lauterbach alarmiert worden, übernahmen besonders an der vielbefahrenen Ortsstraße die Verkehrssicherung und warnten die Autofahrer. Eingeschaltet wurde der Verkehrsfunk in Hessen, und so meldeten sich unzählige Natur- und Tierschützer mit guten Ratschlägen bei der Einsatzleitung im Feuerwehrstützpunkt. Hier waren jedoch die Hilfsmaßnahmen bereits angelaufen und zwar mit den richtigen, wie sich später herausstellte. Relativ schnell erlosch die Schloßberg-Beleuchtung, etwas länger dauerte es, bis von der OVAG in Friedberg die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet wurde. Geschäfts- und Privatleute wurden von der Feuerwehr angerufen und gebeten, ihre starken Lichtquellen auszuschalten. Danach beruhigten sich die Kraniche zusehends und suchten in den Wiesen und Feldern südwestlich von Ulrichstein Rast- und Futterplätze auf.

In der Zwischenzeit waren Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehr im Stadtgebiet unterwegs, um tote und verletzte Tiere einzusammeln. Gegen Mitternacht dann eine erste erschreckende Bilanz: 12 Kraniche waren tot, ein Tier verletzt mit einem Beinbruch, der von Tierarzt Dr. Wilhelm Raabe (Helpershain) behandelt wurde, und sieben Tiere total erschöpft, aber unverletzt, aufgefunden worden. In den frühen Morgenstunden des Sonntags startete man dann erneut eine Suchaktion. Hierbei wurde aber nur noch ein toter Kranich am Umspannwerk gefunden.

Inzwischen waren auch Experten aus dem gesamten Bundesgebiet einschließlich der Staatlichen Vogelschutzwarte in Frankfurt/Main eingeschaltet worden, und vor Ort gaben Vorstandsmitglieder der Kreisgruppe Vogelsberg des Naturschutzbundes unter Leitung von Ernst Happel (Schotten) Ratschläge zur Betreuung der Tiere.

Während die toten Kraniche auf Anordnung der Staatlichen Vogelschutzwarte hin in Marburg und Gießen untersucht werden sollen, um Aufschluß über deren Nahrungsaufnahme in den letzten Stunden zu erhalten, wurden die unverletzten Tiere am Sonntag wieder freigelassen. Die verletzten Vögel kamen in die Tierklinik nach Gießen.

Sowohl Martin Hormann (Staatliche Vogelschutzwarte) wie auch eine Kranich-Expertin aus Klausdorf/Schwerin bestätigten, daß diese Orientierungslosigkeit bei Nebel und diffusen Lichtquellen öfter vorkomme. Das Abschalten der Lichtquellen, wie in Ulrichstein in vorbildlicher Weise geschehen, sei die einzige und richtige Hilfsmaßnahme, die eingeleitet werden könne.

Sichtlich erschüttert waren am Sonntagmorgen zahlreiche Helfer, als die toten Kraniche abtransportiert wurden. Bürgermeister Erwin Horst, der auch die ganze Nacht über in der Einsatzleitung tätig war, und NABU-Kreisvorsitzender Walter Kreß (Fleschenbach) sowie Ornithologen aus ganz Hessen informierten sich auch am Sonntag über den weiteren Verlauf des Kranichzuges. Zwischen acht und neun Uhr begannen die ersten Ketten aufzusteigen und bewegten sich Richtung Südwesten. Teile waren jedoch noch bis in die frühen Nachmittagsstunden im Bereich der Großgemeinde Ulrichstein.