Untermain aktuell 1/1998


Mein Nachbar - ein Wilderer auf Samtpfoten

Aus dem Mitteilungsblatt der Vogelkundlichen Beobachtungsstation Point Reyes in Kalifornien


Bei uns nebenan wohnt ein Wilderer. Sie würden das niemals vermuten, wenn Sie ihm auf der Straße begegnen; er kann nämlich äußerst liebenswürdig sein. Ich weiß aber genau: er ist ein geschickter Wilderer, einer, der es vor allem auf Kleinwild, auf Kaninchen und Schopfwachteln abgesehen hat. Sogar winzige Singvögel erlegt er. Und natürlich hat er keinen Jagdschein. Schlimmer noch, er jagt das ganze Jahr über und hat den größten Erfolg gerade dann, wenn die Jungvögel ihre Nester verlassen. Wenn man Sie oder mich jemals dabei ertappen würde, daß wir eine Schopfwachtel erbeuten oder gar einen ziehenden Singvogel töten, könnten wir mit Geldstrafe oder sogar mit Gefängnis rechnen. Mein Nachbar aber hat kein Gesetz übertreten.

Vielleicht haben Sie einen ähnlichen Nachbarn, der verspielt ist und den die Kinder alle mögen: schließlich gibt es in den USA 60 Millionen solcher Wilderer. Ich meine natürlich die Hauskatzen. Aber wenn wir den weiteren Rückgang des Bestandes an Singvögeln verhindern wollen, müssen wir diesen Wilderern das Handwerk legen.

Katzen wurden ursprünglich gezähmt, um Nagetiere von Häusern und Scheunen fernzuhalten. Heute sind sie für viele Menschen vor allem deshalb so beliebte Hausgenossen, weil sie intelligent und leise sind - also wegen der Eigenschaften, die die Katze als Jäger so erfolgreich machen. Wenn das schnurrende Kätzchen dann auf der Veranda oder dem Küchenboden seine Beute ablegt, zeigt es, daß es immer noch über den ursprünglichen Jagdinstinkt verfügt. Und verläßliche Untersuchungen haben ergeben, daß wohlgenährte Katzen ebensoviel Beute machen wie andere; ein Beweis, daß der Jagdtrieb vom Hunger unabhängig ist.

Der Schaden läßt sich messen: die Haustierhalter eines Dorfes in England haben ein Jahr lang gesammelt, was ihre Lieblinge Ihnen ins Haus brachten; das ergab 14 Beutetiere pro Katze, zumeist Nagetiere (50%), aber fast ein Drittel waren Vögel. Hochgerechnet auf ganz England entspricht das einem jährlichen Verlust von über 23 Millionen Vögeln; und das ist noch vorsichtig geschätzt, denn Katzen bringen weniger als 50% ihrer Beutetiere mit ins Haus, wo man sie zählen kann. Für manche Vogelarten ließ sich daraus folgern, daß der Verlust durch Hauskatzen weit größer war als alle Verluste durch natürliche Beutegreifer.

Eine Untersuchung im US-Staat Virginia kam zur (ebenfalls vorsichtigen) Schätzung, daß eine Hauskatze im Jahr in städtischen Gebieten durchschnittlich 26 Vögel tötet, in ländlichen Gegenden sogar 83. Eine ähnliche Schätzung für den US-Staat Wisconsin belief sich auf jährlich mindestens 19 Millionen Singvögel und 140 000 Stück jagdbares Federwild.

Bei 60 Millionen Hauskatzen in den USA läßt sich ausrechnen, daß sie Jahr für Jahr mehr als 1,56 Milliarden Vögel fangen. Der gewaltige Umfang der Katzenbeute wird noch eindrucksvoller, wenn man bedenkt, daß eine noch viel größere Zahl von Nagetieren getötet wird, wodurch die Hauskatze zu einem Hauptkonkurrenten vieler unserer natürlichen Beutegreifer wird.

Und - schlimmer noch - die Forschung hat ergeben, daß Katzen auf dem Lande viel mehr Tiere erbeuten. Das bedeutet, daß die zusätzlichen 60 Millionen verwilderten Hauskatzen in den Vereinigten Staaten ausgerissene oder ausgesetzte Tiere - sogar noch mehr Vögel töten. Nimmt man die Beute der zahmen und der verwilderten Hauskatzen zusammen, kommt man auf mehr als drei Milliarden getötete Vögel im Jahr! Unser Bundesstaat Kalifornien ist daran überproportional beteiligt: Bei unserer hohen Bevölkerungszahl und dem milden Klima sind mehr Hauskatzen draußen unterwegs und verwilderte Katzen überleben draußen länger.

Der Schutz unserer Singvögel und anderer wilder Tiere wird immer dann zu einem höchst emotionalen Diskussionsthema, wenn jemand vorschlägt, man solle die Freiheit der Hauskatzen einschränken. Eine Umfrage in Wisconsin ergab, daß die Mehrheit der Katzenbesitzer (94%) Singvögel auf ihren Grundstücken haben wollte, daß aber viele von ihnen keine Ahnung davon hatten, daß Katzen jemals Singvögel töten, und viele dieser Katzenbesitzer waren nicht bereit, die Zahl der Hauskatzen der Natur zuliebe zu verringern.

Zur Regulierung der Hauskatzenzahl sind ein paar einfache Schritte erforderlich.

- Erstens: Eigentümer von Hauskatzen müssen ihre Verantwortung begreifen und ihre Katzen sterilisieren lassen. ... Fruchtbarkeit und Reproduktionsrate der Hauskatze sind hoch: ohne Begrenzung könnte eine Katze in ihrem Leben Hunderte bis Tausende von Nachkommen in mehreren Generationen haben. Die Bevölkerung muß sich so um ihre Katzen kümmern, daß sie unkontrollierte Vermehrung unterbindet.

- Zweitens: Ausgesetzte oder verwilderte Hauskatzen haben auf öffentlichem Grund und Boden nichts zu suchen. Wir müssen uns dafür einsetzen, daß die Behörden Katzenkolonien auf öffentlichem Grund verbieten. Mitleidigen Bürgern, die verwilderten Hauskatzen helfen wollen, müssen Leid und Tod vor Augen geführt werden, die von diesen Tieren ausgehen.

- Und schließlich: Es darf Hauskatzen nicht mehr erlaubt werden, frei umherzustreifen, denn selbst Tricks wie Schellen am Halsband bewirken nichts; Katzen schleichen sich sehr vorsichtig an, und Singvögel verbinden Schellengeläut nicht mit Katzengefahr - bis es zu spät ist.

Die Zahl der Menschen nimmt ständig zu und mit ihr die Zahl der Hauskatzen. Die Zahl der Vögel dagegen, die im Frühling singen, nimmt dramatisch ab - zum Teil wegen der Hauskatzen. Wir müssen handeln, wir müssen jetzt handeln, denn wir dürfen unsere vielfältige Vogelwelt nicht den Wilderern auf Samtpfoten opfern.

Daniel Evans, Geschäftführer des Point Reyes Bird Observatory

Übersetzung Wulf Röhnert